Sonntag, 30. Dezember 2007

Müde Augen

Sie zeigen uns tagtäglich so unendlich viele Momente, Szenerien, Bilder und Informationen. Abscheuliche Gewalt, bezaubernde Sonnenuntergänge, trübe Einfalt, bizarrste Ideen, gewohnte Umgebung, faszinierende Entdeckungen.
Doch nichts scheint über den Moment zu gehen, wenn sich zwei Augenpaare treffen. Wenn sich für einen Moment zwei Menschen unweigerlich direkt miteinander konfrontieren, wenn kein schützender Mantel aus Ignoranz und Zurückgezogenheit den gegenseitigen Blick in die "Seele" verhindert. Schon ein flüchtiger Blick stellt einen Kontakt her.

Ich schaue Menschen oft in die Augen, meist ohne dass sie es merken. Wenn die Augenpaare den Blick schweifen lassen... über Häuser, Straßen, Bäume, Wolken, hin zum Horizont, zurück zum eigenen Aufenthaltsort. In diesen Momenten frage ich mich, ob sie sich mit Belanglosigkeiten beschäftigen oder ob sie eine tiefergehende Sache beschäftigt. Ich schau sie an, die Blicke treffen sich eventuell kurz, man schaut beiläufig wieder woanders hin. Jeder bleibt in seiner Sphäre. Was hätte man alles noch in den Augen des anderen sehen können, von ihm erfahren können, mit ihm erleben können. Ein Mensch unter vielen, auf lange Sicht vielleicht unbedeutend für das eigene Leben, in diesem kurzen Moment das komplette Leben. Alles was sich außerhalb des Moments befindet, ist nicht dauerhaft kontrollierbar, unbeherrschbares "Schicksal", auch wenn der Begriff etwas strapaziert ist. Und doch schafft man es nicht, sich an diesen Moment zu klammern, ihn auszukosten, ihm gerecht zu werden in seiner Einzigartigkeit.

Zwei Augen, für den Moment alles, im nächsten Moment nichts mehr. Weg - aus den Augen, aus dem Sinn. Unter Umständen für immer verschwunden in der großen Masse, in der Weite der Welt. Was hat man verpasst? Kann man dem nachtrauern?
Die Beliebigkeit ist so unendlich groß. Die Beliebigkeit dessen, was man sehen, erleben und fühlen kann. Es ist schwierig, da den Überblick zu behalten, den Blick für das Wesentliche zu finden. Was ist das Wesentliche? Was ist das Wesentliche für mich ? Wie soll ich mit solchen Situationen umgehen, ohne ein schlechtes Gewissen, dass einem etwas Einzigartiges entgeht von dieser bunten Welt?

Soviele menschliche Fassaden, denen man begegnet. Hinter kaum eine kann man einen sorgfältigen Blick werfen. Der Moment, wo sich zwei Augenpaare treffen und einander tief analysieren - ein Blick durchs Fenster der Fassade. Manchmal ist es dunkel, manchmal hell dahinter. Soviele Fenster und sowenige Türen. Soviele Blicke und sowenig Rühren. Und doch möchte man den Gegenüber mit seinen Augen in den Arm nehmen. Beruht es auf Gegenseitigkeit?

Ich verbleibe mit Zweifeln und einem wunderschönen, treffenden Gedicht von Kurt Tucholsky:


Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
vielleicht dein Lebensglück ...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, Lider;
Was war das?
kein Mensch dreht die Zeit zurück ...
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber ....
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

- Kurt Tucholsky, 1930

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strangeworld - 31. Dez, 00:34

Was einem ins Auge sticht, ist nicht immer schön und wichtig.
Es kann auch ein Staubkorn sein.

punctum - 31. Dez, 00:38

sehr schönes entrée - na dann, gutes gelingen!
ganz wundervoll ist manchmal ein lächeln, das aus der anonymen menge zurückkommt.

SHALLOW AND PROFOUND

Nous sommes toujours seuls avec nôtre solitude.

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